In ein ganz anderes Leben gestartet

 

Irmgard und Werner Heine waren vor 30 Jahren in den „besten" Jahren

 

Irmgard und Werner Heine haben in Gunsleben ein kleines Häuschen, an dem es immer viel zu werkeln gab. Irmgard Heine hat wohl auch einen „grünen Daumen“.              Foto: Yvonne Heyer
Irmgard und Werner Heine haben in Gunsleben ein kleines Häuschen, an dem es immer viel zu werkeln gab. Irmgard Heine hat wohl auch einen „grünen Daumen“. Foto: Yvonne Heyer

 

30 Jahre leben wir mit der Deutschen Einheit. Jede Familie hat ihre eigenen Erfahrungen gemacht. Was brachte die Wende den Frauen und Männern um die 50? Welchen Weg ging jene Generation, die 1990 gerade die Schule verlassen hat? Oder gerade eingeschult wurde? Diese Fragen wollen wir in den nächsten Wochen beantworten.

 

Von Yvonne Heyer (Volksstimme vom 08.10.2020)
Gunsleben- Der Zufall wollte es, dass Irmgard und Werner Heine einige Tage vor dem 9. November 1989 das erste Mal gemeinsam in den „Westen“  reisen durften. Ein Verwandter wurde 80 Jahre alt. Am 9. November kehrte das Ehepaar aus der Nähe von Dortmund zurück, besuchte noch „schnell“  Freunde in Lelm bei Helmstedt. „Gegen 19 Uhr waren wir zu Hause, unsere Kinder holten uns ab, wir erzählten von unserer Reise. Schließlich stellten wir die Nachrichten an und was wir da zu hören bekamen, konnten wir kaum glauben. Der Schabowski spinnt, haben wir gedacht“, erinnert sich Irmgard Heine. Heute wissen wir alle, dass Schabowski nicht gesponnen hat.
Heines drei Kinder testeten sofort die geöffnete Grenze und fuhren nach Lelm.
Irmgard Heine war am Tag der Grenzöffnung 47 Jahre alt, ihr Mann Werner 50 zwei Menschen im besten Alter. „Man gehörte nun zum alten Eisen“, sagt Werner Heine, der schon bald seinen Arbeitsplatz im ehemaligen Elektromotorenwerk Oschersleben (heute Eltma) räumen musste. Es folgten ABM-Stellen. Dabei hat auch er einmal studiert, sich stetig fortgebildet. Als schließlich die Gesundheit nicht mehr mitspielt, wird Werner Heine verrentet. Irmgard Heine hat einmal Industriekauffrau gelernt, in einem Lohnbüro gearbeitet. 1963 hat das Ehepaar in der Gunsleber Kirche geheiratet.  Mit drei Kindern, zwei Mädchen, ein Sohn, ist sie zeitweise für die Betreuung des Nachwuchses zu Hause geblieben, hat genäht, gestrickt, den Schrebergarten, den es noch heute gibt, bewirtschaftet. „Egal, ob im Hort, in der Schule  oder im Kindergarten: Ich habe mich immer dort eingebracht, wo man was bewegen konnten“, erzählt die heute 77-Jährige. 1975 übernahm Irmgard Heine vertretungsweise die Poststelle in Gunsleben. Als diese geschlossen wurde, wechselte sie nach bestandener Facharbeiterprüfung in das Postamt Hornhausen. Um dort zu arbeiten, musste sie den Führerschein machen. „Das war eine große Herausforderung“, weiß sie noch heute. Aber schließlich machte einige Jahr später die Post in Hornhausen dicht. Aber Irmgard Heine ist niemand, die die Hände in den Schoß legen kann.
So engagierte sich die Gunsleberin bei den Landfrauen, gründete mit einigen anderen engagierten Frauen 1996 den Landfrauenverein in ihrem Heimatort. Ihr Engagement blieb selbst in der  Landeshauptstadt nicht unentdeckt und so bekam sie das Angebot,  einer ABM-Stelle beim Landfrauenverband Sachsen-Anhalt mit Büro in Oschersleben. „Am 1. April 1999 startete ich als Koordinatorin. Das lag mir. Etliche andere Landfrauenvereine, letztendlich waren es zehn, wurden gegründet, immer mehr Mitglieder konnten gewonnen werden“, erinnert sich Irmgard Heine. Viele, viele Kuchen haben die Frauen für Tage der offenen Höfe und zum Landeserntedankfest gebacken, lernten das Binden der Erntekronen, die fortan beispielsweise den Dom in Magdeburg, auch das Landratsamt in Oschersleben und viele Betriebsräume zierten. „Es war eine so schöne Zeit.  Wir Landfrauen brachten Leben in die Dörfer. Gern erinnere ich mich an die Erntekronenwettbewerbe, vor allem an jenen, der 1999 im Park von Gunsleben stattfand. Das war ein Fest!“, berichtet Irmgard Heine.  An die vier Jahre als Koordinatorin beim Landfrauenverband denkt sie wirklich gern zurück. „Es war viel Arbeit, doch ich hatte sehr viel Unterstützung von den Frauen unseres Vereins. Ich habe es nie bereut. So viele Kontakte wurden geknüpft.“  
Besondere Erinnerungen verknüpft Irmgard Heine mit dem Jahr 2004. Am 7. Januar reiste sie mit Ehemann Werner nach Berlin ins Schloss Bellevue zum Bundespräsidenten. Damals hatte Johannes Rau dieses Amt inne. Dort wurde die Gunsleberin für ihr ehrenamtliches Wirken geehrt.
Die Gunsleber Landfrauen stellten sich in ihrem Heimatort einer besonderen Aufgabe: Sie kümmerten sich um die evangelische Kirche, schoben Projekte an, beantragten Fördergelder für das Gotteshaus. Die Dachrinnen, die Schallluken und die gesamte marode Elektrik konnten erneuert werden. Nach 14 Jahren des Schweigens schlug endlich wieder die Kirchturmuhr. „Doch seit mittlerweile fünf Jahren ist unsere Kirche dicht. Das lässt uns einfach keine Ruhe. Wie kann so etwas möglich sein? Das gab es nicht einmal zu DDR-Zeiten“, so die 77-jährige Christin.
So wie die Eheleute Heine selbst, sind auch alle anderen Landfrauen in die Jahre gekommen. Schweren Herzens wurde deshalb 2015 die Auflösung des Landfrauenvereins Gunsleben beschlossen und mit dem Jahr 2016 vollzogen.
Das Leben ihrer drei Kinder ging auch nicht immer nur geradeaus, und die Wendezeiten brachten neue Herausforderungen. Heute haben die beiden Töchter und der Sohn einen festen Platz im Beruf und mit ihren Familien gefunden. Das trifft auch für die drei  Enkelkinder zu. Nach 30 Jahren im vereinten Deutschland sagen Irmgard und Werner Heine einmütig: „Wir haben eine schöne Familie und ein zufriedenes, schönes  Leben. Es waren spannende Jahre. Aber wir sagen auch: Der Zusammenhalt der Menschen war zu DDR-Zeiten besser. Es war nicht alles schlecht.“